Von niedrigen Löhnen und mehr

Studiogast in der Sendung „Gute Bezahlung für alle – Was ist uns Arbeit wert?“ (Deutschlandfunk Kultur) am 08.01.2022
»Wenig Geld trotz Vollzeitjob: In Deutschland trifft das jeden Fünften. Betroffen sind meist jene, die den Laden am Laufen halten: Pflegekräfte, Kassiererinnen, Zusteller. Experten warnen vor einer neuen Klassengesellschaft. Wie können wir das ändern?«
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Die Diskussionssendung macht den Auftakt des Themas der Denkfabrik 2022 von Deutschlandfunk Kultur: „Von der Hand in den Mund – Wenn Arbeit kaum zum Leben reicht“. »Sie nimmt einen großen Teil unserer Lebenszeit ein – und wird oft so schlecht bezahlt, dass es kaum zum Leben reicht. Wie viel Geld wir für unsere Arbeit bekommen, entscheidet darüber, wo wir leben, wie wir uns ernähren und welche Chancen wir unseren Kindern bieten können. Was ist dran an der Schere, die immer weiter auseinanderklafft? Und warum sagen auch viele Wohlhabende: Vermögen und Erbe müssen anders besteuert werden.«
➔ Alle Beiträge zum Jahresthema gibt es hier: https://denkfabrik.deutschlandradio.de

»Vollzeit arbeiten – und dennoch reicht es für viele Menschen hierzulande nicht zum Leben. Ein Fünftel der Beschäftigten sind Geringverdiener, so eine aktuelle Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Sie haben monatlich weniger als 2284 Euro zur Verfügung und verdienen damit weniger als zwei Drittel des Bruttoarbeitsentgelts aller Sozialversicherungspflichtigen in Vollzeit.

Immer mehr sind von Armut betroffen. Die Coronapandemie hat dies noch weiter verstärkt.

Hart arbeiten, aber das Geld reicht nicht

„Bei Hartz IV denken die Leute immer an Arbeitslose. Dabei gibt es viele, die hart arbeiten, aber nicht damit auskommen“, sagt Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Koblenz.
„Es gibt Hunderttausende von Alleinerziehenden, über 280.000 pflegende Angehörige, die so arm sind, dass sie Hartz IV beantragen müssen. Es gibt formal hochqualifizierte Leute mit Hochschulabschluss, die im Niedriglohnsektor arbeiten: Soloselbständige, die sich für einen Hungerlohn verkaufen, die als Scheinselbständige bei der VHS Kurse geben“, lauten die ernüchternden Fakten. „Und die tauchen nie in einer Statistik auf.“

Stefan Sell verweist auch auf die aktuelle Diskussion um die Entlohnung der Beschäftigten in „systemrelevanten Berufen“, wie dem Pflegebereich, im Supermarkt, bei den Zustellern.
Man habe sie im Lockdown beklatscht, verbessert habe sich ihre Situation nicht. Im Gegenteil: Die Supermarktgiganten hätten die Profite nicht weitergegeben, Lieferdienste wie die „Gorillas“ täten alles, um Gewerkschaften und Tarifverträge zu verhindern.

Appell für Gewerkschaften

Dabei seien starke Gewerkschaften ein wichtiger Baustein, um Interessen durchzusetzen, betont der Sozialwissenschaftler. Das zeige sich in der Industrie. In der Altenpflege dagegen sei der Organisationsgrad schlecht: „Hier verdienen sie zum Teil mehrere hundert Euro weniger als die Pflegekräfte in den Krankenhäusern. Und mit ein Grund dafür ist, dass der Organisationsgrad bei fünf bis sechs Prozent liegt – er ist quasi nicht gegeben.“
Stefan Sell sieht aber auch Chance für eine Wende. „Viele Arbeitnehmer in den personalintensiven Dienstleistungsberufen haben überhaupt noch nicht begriffen, dass sich die Welt zu ihren Gunsten dreht. Die Firmen finden keinen mehr. Selbst in Bulgarien und Rumänien hat es sich herumgesprochen, dass du hier unter hanebüchenen Bedingungen ausgebeutet wirst. Die Rahmenbedingungen waren noch nie so günstig wie heute für Forderungen, dass man besser vergütet wird.“«

(Quelle: www.deutschlandfunkkultur.de/was-ist-uns-arbeit-wert-100.html)